Wenn das Chaos im Kopf kein Ende nimmt

Wenn das Chaos im Kopf kein Ende nimmt

Der Berliner Nino Drescher ist manisch-depressiv. Seit seiner Jugend lebt er mit extremen Gefühlsschwankungen. Als junger Erwachsener entwickeln sich daraus Depressionen, die später von manischen Phasen begleitet werden. Über sein Leben in der Achterbahn hat der heute 47-jährige Drescher ein Buch geschrieben, mit dem er anderen Erkrankten helfen will. Gleichzeitig will er Angehörigen und Freunden von Betroffenen Erklärungen liefern, um Erkrankte besser zu verstehen.

Nino, seit wann weißt Du, dass Du manisch-depressiv bist?
Depressionen wurden bei mir schon mit etwa 25 Jahren vermutet bzw. Stimmungsschwankungen wurden auffällig. Meine damalige Freundin hatte das erkannt und mich zu einem Psychiater geschickt. Ich liebte sie und tat ihr diesen Gefallen.

Wie ging es dann weiter?
Der Arzt hat Depressionen festgestellt, aber ich nahm das damals in jungen Jahren nicht sonderlich ernst. Ich bekam Antidepressiva verschrieben, hatte aber viel zu viele andere Dinge gleichzeitig im Kopf und nahm sie nur für eine kurze Zeit und unregelmäßig. Unter anderem durch mein emotionales Chaos scheiterte die Beziehung und ich verlor an Halt. Ich flüchtete in eine neue Beziehung mit einer Amerikanerin und wanderte aus. Ich übersah in meinem verwirrten Zustand, dass ich dadurch auch meine Familie nicht mehr um mich haben würde. Trotzdem zog ich es durch und heiratete sie. Ich hatte nun auf einmal auch einen 5-jährigen Stiefsohn. Ich gab alles und setzte all meine Kraft ein, doch meine Depressionen wurden auch durch diese neuen Lebensumstände immer heftiger. Meine Frau konnte damit nicht umgehen und machte Schluss mit mir, das konnte ich verstehen. Ich fühlte mich schuldig. Ich hatte in der Fremde versagt und war am Boden zerstört. Zurück in Berlin wurde nun das ganze Ausmaß deutlich. Von da an wusste ich, dass ich krank war. Mein Zustand war so schlimm, dass ich einige Male in Psychiatrien eingewiesen wurde. Auch in eine geschlossene Anstalt. Da sie befürchteten, dass ich mir etwas antun könnte, wurde ich sogar einmal für zwei Tage in einem Beobachtungszimmer ans Bett gefesselt. Ich wurde mit Medikamenten behandelt und nach anderthalb Jahren ging es mir scheinbar besser. Verrückt und immer noch verliebt, sprang ich erneut über den großen Teich, diesmal ganz auf mich allein gestellt. Meine Frau war dagegen und ich schlug mich auf eigene Faust im Nachbarörtchen durch, wollte ihr nicht auf die Pelle rücken. Das war nicht einfach, ich hatte teilweise drei Jobs, um mich über Wasser halten zu können. Ich war nun einem enormen – auch psychischen – Druck ausgesetzt. Wie ich später von meiner Psychotherapeutin erfuhr, war dies die perfekte Grundlage, um manische Episoden zu entwickeln. Das Gefühl nicht genug zu sein, zu scheitern, seine Eltern zu enttäuschen. Das sind Gemütszustände, die durch Depressionen entstehen und sich durch den Gegenspieler Manie entladen. Nach einem Jahr immer stärker werdender Manie gab ich auf und kehrte völlig zerstört nach Berlin zurück.

Kannst Du Dich an Deine erste Manie erinnern? Falls ja, was hast Du konkret in dieser Manie getan?
Erste manische Verhaltensweisen traten bereits Mitte meiner 20er Jahre zum Vorschein. Ich tanzte zum Beispiel im Winter nackt auf der Straße, legte mich während der Fahrt auf Autodächer oder auch mal einfach auf den Kurfürstendamm, weil ich mich unverwundbar und unsterblich fühlte.

Viele Menschen können sich unter einer manischen Depression wenig vorstellen. Kannst Du erklären, wie sich das anfühlt?

Da zitiere ich gerne aus dem Buch, besser bekomme ich es nicht hin:
Manie: Mein Kopf ist derart von Glücksgefühlen und absurder Stärke durchflutet, dass ich mich nachts auf den Kurfürstendamm lege und mir sicher bin, dass mir kein Auto etwas anhaben kann. Mein Verstand läuft unfassbar schnell. Alle anderen Leute um mich herum scheinen nichts zu begreifen. Ein regelrechtes Feuerwerk im Kopf findet statt. Ich bemerke nicht, dass ich das Limit schon weit überschritten habe. Der Zusammenbruch kommt, mein Gehirn knallt durch, ich wehre mich aggressiv dagegen und dann fließen verzweifelte Tränen.

Depression: Kopf und Körper sind nach der Manie völlig ausgelaugt. Ich verbringe Tage oder auch Wochen damit, im Bett zu bleiben, unfähig, etwas zu bewerkstelligen. Ich empfinde nur noch tiefe Traurigkeit, bin total erschöpft. Ich liege da und schaue mir den ganzen Mist im Fernsehen an. Ich schaffe es, auf die Toilette zu gehen, das ist aber auch schon alles. Ich weine manchmal unkontrolliert und schlafe locker 16 Stunden am Tag. Es ist, als ob sich schwarzer Teer über mein Gehirn ergießen würde. Ich lebe nicht. Die Depression saugt mir das Leben aus.

Wie lebst Du heute mit der Erkrankung?
Ich ziehe mich meist zurück in meine Einzimmerwohnung und versuche der Manie aus dem Weg zu gehen, ich halte die sozialen Kontakte gering. Ein längerer Aufenthalt unter Menschen ist sehr anstrengend. Da das nicht immer geht, lande ich etwa einmal im Jahr in einer Psychiatrie, um wieder zu mir zu kommen.

Nimmst Du regelmäßig Medikamente oder bist du in Behandlung? Falls ja, bringt Dir das etwas?
Ich habe fast alle Medikamente durch, nehme auch heute noch welche, ohne geht es nicht. Ich warne davor die Nebenwirkungen der Medikamente zu
unterschätzen. Sie haben bei mir großen zusätzlichen Schaden angerichtet. Zum Beispiel habe ich sieben Jahre lang ein Medikament in hoher Dosierung genommen, das ständig Entzündungen an der Bauchspeicheldrüse auslöste. Das hat schwere Schäden hinterlassen. Meine Therapeutin informierte sich mal genau über dieses Medikament, weil sie einen Zusammenhang vermutete. In der „Roten Liste“ (Buch für Mediziner) fand sie einen sehr deutlichen Warnhinweis. Solche Dinge stehen nicht in einem Beipackzettel, es erfordert die Initiative des Therapeuten und eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der Pharmaindustrie sowie ein wirkliches Interesse an der Gesundheit des Patienten. Wenn man das Gefühl hat, es geht dem Therapeuten nur um seine Stundenabrechnungen – weg da, rate ich. Die Kompetenz eines Therapeuten rund um Nebenwirkungen ist ein guter Gradmesser dafür, ob ein Therapeut gut ist. Ebenso muss die Chemie zwischen Patient und Therapeut stimmen, sonst nützt die Therapie gar nichts. Seit nunmehr fünf Jahren bin ich in einer Psychotherapie, die etwas Stabilität in meinen Alltag bringt.

Wovon lebst Du?
Ich kämpfe seit 2008 mit der Krankheit. Einer geregelten Arbeit nachzugehen ist nicht mehr möglich, ich bin gezwungen, mit einer Erwerbsminderungsrente auszukommen. Im Portemonnaie habe ich etwa 350 Euro im Monat. Ich sage das so offen, weil ich es schrecklich finde, wie in unserem reichen Land kranke Menschen einfach weggeschoben werden und ein unwürdiges Dasein fristen müssen.

Gibt es eine Möglichkeit für Dich zu arbeiten und damit Deinen Lebensstandard zu verbessern?
Leider nein, ich habe es wieder und wieder mit verschiedenen Jobs versucht, es endete immer mit einer heftigen Manie im Krankenhaus.

Wie verbringst Du Deinen Alltag?
Fernsehen, Computer, Sauna, Fußball gucken und meistens gehe ich für etwa anderthalb Stunden am Tag in einen Dönerladen und schreibe oder treffe ein, zwei Leute zum Quatschen. Eine Cola dort kann ich mir noch leisten.

Wie oft warst Du in Kliniken? Warst Du immer in den gleichen Kliniken?
Ich würde schätzen etwa 20 Mal in verschiedenen Einrichtungen. Es ist inzwischen leider so, dass man sich die Psychiatrien nicht mehr aussuchen kann, das hängt vom Wohnort ab. So sollte es meiner Meinung nach nicht sein. Es muss möglich sein eine Klinik zu wählen, mit der man gute Erfahrungen gemacht hat, die einem vertraut ist.

Gehst Du offen mit Deiner Erkrankung um?
Ja, absolut. Nur wenn ich auch mit Freunden und der Familie darüber spreche, können sie erahnen, wie sie mit mir umgehen können. Ein offener Umgang ist generell sehr wichtig.

Wie reagiert Dein Umfeld darauf?
Ich habe im Gegensatz zu früher nur noch einen sehr kleinen Freundeskreis und die wissen Bescheid. Sie können mich einschätzen und sind nicht sauer, wenn ich absage, weil es mir nicht gut geht. Dann lassen sie mich auch in Ruhe und sind nicht böse auf mich.

Du hast ein Buch über Dein Leben geschrieben. Warum machst Du Deine Erkrankung öffentlich?
Es hätte mir damals geholfen, wenn ich so ein Buch gelesen hätte und es soll auch Angehörigen und Freunden helfen, die Krankheit besser zu verstehen. Wenn einem die betroffene Person wichtig ist, ist es ratsam, sich über die manisch-depressive Erkrankung zu informieren, dazu gibt es keine Alternative. Außerdem hatte ich ein extrem wildes und verrücktes Leben, das musste einfach mal zu Papier gebracht werden, das glaubt mir sonst keiner. Sex, Drugs und Rock n‘ Roll sind ein großer Teil davon und sprachlich nehme ich auch kein Blatt vor den Mund. Das darf ruhig als Warnung verstanden werden. Gelacht und geliebt wurde auch sehr viel. Es ist kein Buch, das nur von einer Krankheit handelt, sondern es ist ein ziemlich turbulentes Abenteuer.

Vielen Dank für das offene Gespräch, Nino.

Weitere Informationen unter www.chaos-im-kopf.com. Das Buch ist im stationären und online Buchhandel mit dem Titel „Chaos im Kopf. Eine manisch-depressive Lebensgeschichte“ und der ISBN-13: 978-3749435753 als Taschenbuch für 12,99 Euro erhältlich. Es wird auch als E-Book vertrieben.

Autorin:
Martina Groh-Schad
Fotoquelle Bilder: Nino Drescher

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